letzte mann 1Die großen Filme der Filmgeschichte sind die, von denen man eigentlich nur den Namen aussprechen möchte, da mit anderen Worten zu erklären, was sie in einem bewegt haben, die Befürchtung mit sich bringt, seine Poesie ein wenig abzuwerten. Nach dem Kino will man über „Mouchette“, „Das Schweigen“ oder „In a Lonely Place“ eigentlich kein Wort verlieren. Einfach durch die Straßen zu laufen, alleine oder schweigend mit den Vertrauten, mit denen man das eben Gesehene in stiller Übereinkunft teilt – das ist das Richtige.

Diese Filme zeigen uns die Geheimnisse unserer Welt, um sie gleichzeitig vor uns zu verbergen. In dieser simplen Dialektik liegt die Grundsubstanz des „Mythischen“. Denn diese Filme offenbaren uns eine Wahrheit, die ihre Wahrheit ist. Eine ekstatische Wahrheit, die mit jeder Einstellung des Films die Leinwand zu zerreißen droht. Also: wir sind im Kino.

„Der letzte Mann“, Deutschland 1924, unter der Regie von F.W.Murau, geschrieben von Carl Mayer, mit Emil Jannings in der Hauptrolle. Zur Geschichte: Jannings spielt den Portier des Berliner Hotels Atlantic, der als Respektsperson geachtet ist. In dem armseligen Hinterhofmilieu, in dem er mit seiner Familie lebt, bewundert man ihn als den Repräsentanten der großen Welt. Doch eines Tages befindet der Geschäftsführer des Hotels, dass der Portier zu alt für seinen Posten geworden ist, und degradiert ihn zum Toilettenwärter. Die Welt des alten Mannes bricht zusammen. Zu Hause wagt er seinen sozialen Abstieg nicht einzugestehen und stiehlt heimlich die Portiersuniform, um den Schein zu wahren. Aber als sein Schwindel doch aufgedeckt wird, schlagen ihm Hohn und Verachtung entgegen. Der alte Mann scheint endgültig gebrochen. Doch als dann ein reicher Hotelgast in seinen Armen stirbt, fällt ihm das Vermögen des Toten zu, und aus dem scheinbar verlorenen Mann wird ein Hotelgast, dem alle mit Unterwürfigkeit begegnen.

Wenn Wahrheit das ist, was uns im Innersten bewegt, dann darf man niemals an der Existenz zweifeln. Soviel steht fest. Und das notwendige Schicksal zwingt uns zu glauben, an das Spirituelle oder an das Säkulare, an das Sein oder an das Haben. Und die prinzipielle Offenheit menschlichen Lebens zwingt und eine Entscheidung auf – zu überleben oder zu zerbrechen.

Emil Jannings verkörpert dieses tragische, aber zutiefst menschliche Kreuz mit einem Pragmatismus von hundert Jahren Lebenserfahrung. Sein Wunsch nach Teilhabe am Kapital der modernen Gesellschaft ist der Überbau seiner Lebensphilosophie. Seine Leibesfülle ist sein kleiner Wohlstand, den er sich im Laufe des Lebens angesammelt hat. Wer kann es ihm verübeln? Sich einer Gesellschaft zu entziehen, die den einzelnen anhand seiner Arbeit positioniert, konnte zu Beginn des 20. Jhs. von einem wenig gebildeten Arbeiter des niederen Bürgertums nicht verlangt werden. Zumal die Arbeit im kapitalistischen System zumindest die weitgehend gesicherte Aussicht versprach, nicht hungern zu müssen.

Mit der Herabwürdigung des Portiers zum Toilettenwärter und somit an den unteren Rand der sozialen Arbeitsordnung öffnet „Der letzte Mann“ seine humanistische Botschaft. Wie kann der Mensch dem Menschen ein Mensch sein? Wenn die Gesetzte des kapitalistischen Systems die Würde und die Persönlichkeit des einzelnen Menschen missachten, steht dies dann nicht in einem höheren Dienst von Glück und Wohlergehen aller Menschen einer Gesellschaft? Ist somit nicht das anithumanistische und durchweg kapitalistische Vorgehen gerechtfertigt? Natürlich stellt sich Emil Jannings in der Rolle des Portiers dieser weitgehend abstrakten Frage nicht, aber sie ist interessant im Hinblick auf das Verständnis des Films. Nun, was gilt es für den Portiert zu tun? Also, es wäre, ideell gesprochen, für seine Rolle einfach sich in dieser Kontroverse schlichtweg vom Haben zu trennen und sich auf das Sein zu konzentrieren. Doch die Orientierungslosigkeit ist übermächtig. Der Verlust der sozialen Stellung erzeugt in ihm ein gewaltiges Identitätsproblem, das ihn seine innere Stärke nicht sehen lässt. Der dramaturgische Kern der Fabel ist offen gelegt, und die Katastrophe erzwingt die Entscheidung. Im Angesicht einer vermeintlich allumfassenden Dominanz mutet dem Portier ein würdevolles Überleben unmöglich an. Fassungslos und gebrochen ist er bereit, sich seinem notwendigen Schicksal hinzugeben. Den Glauben hat er verloren. Das Sein kann er nicht sehen, das Haben hat ihn mit Füßen getreten.

Das vollkommen überflüssige und unangenehm aufdringliche Happy-End des Films, welches Murnau aufgezwungen wurde, ist hingegen schlichtweg Unsinn. Und Murnau war geschickt genug, dieses Nachspiel ironisch verfremdet zu inszenieren. Wie sonst sollte man eine zehnminütige Fressorgie im Hotel einstufen, die laut herauszuschreien scheint, dass der Sinn des Lebens in der Gefräßigkeit liege? Und in der übertrieben albernen Verbrüderungsszene mit dem neuen Toilettenwärter Murnau wirklich Ernsthaftigkeit zu unterstellen, widerspricht allen Inszenierungen, die man sonst von ihm kennt. Eine feine Ironie, dass hier die Anfänge einer kulturindustriellen Filmbranche, die Dogmen der Moderne widerspiegeln, die der Film doch selbst grundlegend in Frage stellt.

letzte mann 2Ein Drama benötigt nicht viele Elemente. Sie müssen nur richtig angeordnet sein. Ohne umständliche dramaturgische Verrenkungen führt uns Murnau die schlichte, aber nicht minder komplizierte Frage nach dem Wesen des Films vor Augen. Beeindruckend, wie seine rationalisierte Bildfolge ohne einen Zwischentitel die Fabel erzählt, und gleichsam die elementarste Ebene des Films definiert. Denn letztlich ist ein Film doch einfach eine in Bildern erzählte Geschichte. Hört sich banal an, ist es aber keinesfalls. Denn im Gegensatz zum Talking-Heads-Kino, dessen Einstellungen bemüht sind, die Geschichte zumindest nicht zu blockieren, führt die visuelle Erzählung direkt ins Herz des Kinos. Führt uns zu Dreyer, Bergman, Cocteau und auch Lynch. Ihr werdet es merken, wenn ihr aus dem Kino kommt, und euch nach Reden nicht zumute ist. Einfach durch die Straßen zu laufen, alleine oder schweigend mit den Vetrauten, mit denen man das eben Gesehene in stiller Übereinkunft teilt. Fühlen – das ist das Richtige. Das ist Kino.